Übrigens – was ich noch erzählen wollte.
Hinter der Kulisse meiner Essstörung und Depression
🚨 Triggerwarnung: 🚨
In diesem Text geht es um psychische Erkrankungen, insbesondere Depressionen, Essstörungen und Körperbildstörungen.
🚨 Falls dich diese Themen belasten, sei achtsam beim Lesen. 🚨
🚨 Triggerwarnung: 🚨

– Claas –
Ein Stück meiner Geschichte
Es gibt Dinge, die so tief in uns verwurzelt sind, dass sie unseren Alltag bestimmen, auch wenn wir sie nicht immer bewusst wahrnehmen. Dinge, die uns begleiten, selbst wenn wir versuchen, sie zu ignorieren.
Das hier ist meine Geschichte. Ein kleiner, aber allgegenwärtiger Teil davon.
Es geht um meine Essstörung.
Es geht um meine Depression.
Es geht darum, wie es dazu kam – und wie ich meinen Weg daraus suche.
Hallo, mein Name ist Claas und ich leide an einer Essstörung!
Diesen Satz zu sagen, fällt mir heute leichter als früher. Aber es hat lange gedauert, bis ich ihn ohne Scham aussprechen konnte.
Meine Diagnose bekam ich Anfang 2015: Binge-Eating-Störung und rezidivierende unipolare Depression.
Das bedeutete für mich zwei Dinge:
- Ich war nicht einfach nur „willensschwach“ oder „zu wenig diszipliniert“. Ich hatte eine ernsthafte Krankheit.
- Ich musste lernen, damit umzugehen – und das bedeutete vor allem, nicht länger zu schweigen.
Ich habe mich entschieden, offen darüber zu sprechen. Weil Schweigen nichts ändert. Weil Verdrängen nur dazu führt, dass es schlimmer wird. Und weil ich mir wünsche, dass psychische Erkrankungen nicht mehr als Tabu-Thema behandelt werden.
Aber ich weiß auch, dass nicht jeder, der offen spricht, auf Verständnis stößt. Ich hatte Glück. Ich habe fast ausschließlich gute Erfahrungen gemacht. Doch ich kenne viele, die Ablehnung erfahren haben, die sich plötzlich erklären mussten, die gegen Vorurteile ankämpfen.
Vielleicht wurde auch über mich hinter meinem Rücken geredet. Vielleicht gab es abwertende Kommentare – nur eben nicht in meiner Gegenwart.
Wie alles begann
Bis 2014 hatte ich keine wirkliche Vorstellung davon, was eine Depression oder eine Essstörung bedeutet.
Ja, ich hatte 2007 erste Anzeichen einer Depression gespürt. Doch sie wurden abgetan. Ärzte sagten mir, es sei „Burnout“ – als wäre das weniger schlimm. Ich bekam ein Medikament, das meine Stimmung aufhellen sollte. Und weil mir alle sagten, dass „es wieder besser wird“, glaubte ich es.
Ich wollte es glauben.
Die erste Reha kam 2008/2009. Sie war für mich völlig nutzlos. Ich war über Weihnachten und Neujahr dort – eine Zeit, in der kaum Therapie stattfand. Aber Hauptsache, man konnte irgendwas abrechnen.
Gruppentherapie? Ja, einmal pro Woche. Mit 15 bis 20 Leuten, in denen kaum Raum für echte Gespräche war. Ich konnte mich nicht öffnen. Zu viele Stimmen, zu viel Unruhe.
Und nach der Reha? Weiter wie bisher. Weil alle sagten: „Stell dich nicht so an.“
Und ich? Ich stellte mich nicht so an. Ich verdrängte.
Der erste große Einbruch
2009, nach der Reha, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, einen Hauch von Erkenntnis über meine Situation zu gewinnen. Aber dann kam der Dämpfer:
Ich wollte mit einer nahestehenden Person darüber sprechen. Doch die Antwort war:
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“
„Ich habe damit nichts zu tun.“
Bämm.
Das war’s. Die Tür war zu. Ich hatte nicht mehr die Kraft, das Thema anzusprechen.
Also verdrängte ich weiter. Fünf Jahre lang.
Bis Ende 2014.
Der endgültige Zusammenbruch
2014 war das Jahr, in dem mein Verdrängungsmechanismus endgültig versagte. Ich hatte einen seelischen Zusammenbruch, der mich für zwölf Wochen in eine psychologische Tagesklinik in Dortmund brachte.
Und dort wurde mir eines klar:
Mein Essverhalten war nicht einfach nur „schlechte Angewohnheit“. Es war eine Überlebensstrategie.
Essen war mein Ventil. Mein Trost. Mein Umgang mit Stress, Angst, Trauer – mit allem, was ich nicht fühlen wollte.
Ich hatte mich jahrzehntelang mit Essen betäubt.
Januar 2021: 163,3 kg.
Ich hatte mich wortwörtlich schwerer gemacht, um leichter mit dem Leben klarzukommen.
Die Sucht, die niemand ernst nimmt
Stell dir vor, jemand ist alkoholabhängig. Sein Umfeld weiß es, also gibt es keine Flaschen in der Wohnung, keine Gläser auf dem Tisch. Denn jeder Schluck könnte der eine zu viel sein.
Jetzt ersetze Alkohol mit Zucker.
Meine Droge ist Zucker.
Mein Trigger? Coca-Cola.
Es gibt kein „nur ein Glas“ für mich. Kein „nur ein Stück Schokolade“. Entweder alles – oder nichts.
Wenn Süßigkeiten da sind, werden sie gegessen. Alle. Sofort. Bis nichts mehr da ist.
Ich bin ein Zucker-Junkie.
Und genau wie ein Alkoholkranker, der nicht „einfach ein bisschen trinken“ kann, kann ich nicht „einfach ein bisschen naschen“.
Der Wendepunkt: Reha 2021
Im Februar 2021 begann meine bisher erfolgreichste Reha. In Saalfeld.
Dort habe ich mich nicht zum erste Mal mit meiner Essstörung auseinandergesetzt. Ich habe mich auch nicht das erste Mal meinen Emotionen gestellt. Aber ich habe meinen Körper zum ersten mal nicht nur als Feind gesehen.
Ich habe Bewegung für mich entdeckt.
Ich begann zu wandern. Im tiefsten Winter. Erst sechs Kilometer, dann acht, dann zehn. Am Ende meiner Reha war ich bei 16 Kilometern. Und das mit über 160 kg Körpergewicht.
Zurück zuhause habe ich das Wandern durch eine andere Leidenschaft ersetzt: Fahrradfahren.
Fahrradfahren wurde mein Weg zur Heilung. Ein Moment für mich, meine Gedanken, meine Gefühle.
Wo stehe ich heute?
📌 Seit der Reha habe ich keine Cola mehr getrunken.
📌 Ich esse mittlerweile (gerne) Salat – früher undenkbar.
📌 Ich war bei 120 kg, aktuell schwanke ich um die 126 kg. (Tendenz leider wieder weiter nach oben)
Aber: Mein altes Essverhalten kehrt manchmal zurück. Besonders abends.
Dann ist es, als gäbe es einen „Point of No Return“. Wenn ich die Entscheidung getroffen habe, zum Kühlschrank zu gehen – dann gibt es kein Zurück mehr.
Jeden Tag kämpfe ich gegen diese Automatismen. Mal gewinne ich. Mal verliere ich.
Aber ich kämpfe weiter.
Warum ich das hier schreibe
Weil Schweigen nichts ändert.
Ich schreibe, weil ich hoffe, dass dieser Text jemandem hilft, der sich gerade genauso allein fühlt, wie ich mich oft gefühlt habe.
Ich schreibe, weil psychische Erkrankungen nicht verschwinden, wenn man sie ignoriert.
Und wenn du gerade kämpfst, dann lass dir eines gesagt sein:
Du bist nicht allein. Und du bist nicht falsch.
📞 Telefonseelsorge:
📞 0800 / 111 0 111
📞 0800 / 111 0 222
📞 116 123
Ich gehe meinen Weg. Schritt für Schritt. Manche Tage stolpere ich. Andere laufe ich fester. Aber ich bleibe nicht stehen.
Claas.
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